Digitale Lösungen in der Früherkennung, Ersterfassung und Erstberatung bei beginnendem Stottern

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Die Fachwelt ist sich einig: Je früher eine Behandlung von Stottern initiiert wird, desto höher sind die Chancen auf eine erfolgreiche Therapie und normalen Redefluss. Voraussetzung hierfür ist eine frühe Erkennung des Stotterns. Dabei ist zu beachten, dass viele Kinder eine Phase der normalen Unflüssigkeiten durchlaufen.

Mit den beiden Online-Tools bietet die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) ein ökonomisches und wissenschaftlich erprobtes Verfahren zur Früherkennung respektive zur Ersterfassung und Erstberatung bei Redeunflüssigkeiten an. Beide Instrumente sind unter www.hfh.ch/stotternerkennen  gratis abrufbar. Zur besseren Nachvollziehbarkeit der Instrumente empfiehlt sich der Besuch der Website und das ‚Liveerleben‘ des Verfahrens.

Beginnendes Stottern

Alle Menschen sprechen unflüssig. Es gibt keine 100% Flüssigkeit in der menschlichen Sprechweise. Insofern gibt es normale Sprechunflüssigkeiten, die sich folgendermaßen darstellen lassen: lockere Wiederholungen von ein- oder mehrsilbigen Wörtern oder Satzteilen, Revisionen, Satzabbrüche, ungefüllte oder gefüllte Pausen (z.B. «ähm») und Einschübe. Auch lockere Dehnungen können dazu gehören, die meist als Betonungen interpretiert werden können. Bei jüngeren Kindern wird die Häufung dieser normalen Unflüssigkeiten auch als «entwicklungsbedingte Redeunflüssigkeiten» bezeichnet, deren Ursache man auf die Unreife des gesamten Sprachsystems zurückführt.

Symptomatische Unflüssigkeiten hingegen unterscheiden sich quantitativ von den normalen Unflüssigkeiten durch eine allgemein größere Auftretenshäufigkeit, ihrer größeren Anzahl von Wiederholungseinheiten und ihrer längeren Dauer (vgl. u.a. Natke, 2005; Sandrieser, 2004; Sandrieser & Schneider, 2015). Nichtstotternde Kinder zeigen äußerst selten symptomatische Unflüssigkeiten, während bei Kindern, welche symptomatische Unflüssigkeiten zeigen auch normale Unflüssigkeiten vorkommen.

Eine vertiefte Darstellung in Form einer Gegenüberstellung normale und symptomatische Sprechunflüssigkeiten sind auf der HfH-Website www.hfh.ch/stotternerkennen abrufbar.

Identifikation des beginnenden Stotterns

Es werden in der Fachliteratur verschiedene Vorschläge gemacht, um das beginnende Stottern zu identifizieren. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Gewichtung einzelner Bereiche der Symptomatik (Ochsenkühn & Thiel, 2005; Sandrieser & Schneider, 2008, S. 63ff; Kuckenberg & Lattermann, 2011).

In einem mehrjährigen Entwicklungs- und Evaluationsprozess wurden die beiden Webapplikationen der HfH zur Marktreife geführt.

Folgende Abbildung (Abb. 1) verdeutlicht die inhaltliche Stoßrichtung und das Zielpublikum der beiden Tools. Der RedeflussKompass kann von Laien angewendet werden und dient zur Früherkennung. Es stellt sich die Frage, ob das Stottern beginnt. Der StotterKompass ist für Fachpersonen und ist für die Ersterfassung/Erstberatung da. Er unterstützt die Diagnostik, Beratung und Therapie.

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Komplementärer Einsatz RedeflussKompass und StotterKompass

Abb. 1: Komplementärer Einsatz RedeflussKompass und StotterKompass

Der komplementäre Einsatz der beiden Instrumente wurde in einem vierjährigen Forschungsprozess (Kohler & Braun, 2015 – 2019) untersucht. Die Rückschlüsse aus der quantitativ-qualitativen Evaluation bei einer Stichprobe von n=60 flossen in die in diesem Beitrag vorgestellten Onlinetools ein.

Weiterentwicklung der Instrumente

Das methodische Vorgehen sowie die Ergebnisse werden an anderer Stelle differenziert dargestellt (Kohler & Braun, 2019; Kohler & Braun, 2020). In der Weiterentwicklung und Optimierung der Instrumente wurden Erkenntnisse der Evaluation konsequent berücksichtigt und in die Onlineversionen integriert.

Das Entwicklungsprojekt im Überblick

Die folgende Grafik (Abb. 2) bildet überblickshaft die Bausteine und die zeitliche Ordnung des Entwicklungsprojektes ab.

Grafik zur Übersicht Massnahmen Digitalisierung der Instrumente
Übersicht Massnahmen Digitalisierung der Instrumente

Abb. 2: Übersicht Massnahmen Digitalisierung der Instrumente

Die Vielschichtigkeit des Entwicklungsprozesses gerade durch die Entscheidung einer Digitallösung wird in dieser Abbildung deutlich.

Entscheidung für eine digitale Lösung

Nach der empirischen Überprüfung des komplementären Einsatzes von RFK 3.0 und SK und den gewonnenen Erkenntnissen standen die Autoren vor der Grundsatzfrage, ob die Weiterentwicklung der Instrumente weiter auf analoger Basis (Druckversion auf Papier) oder neu auf einer digitalen Plattform mit Eingabefunktionen präsentiert werden sollen.

Folgende Argumente sprachen für eine digitale Lösung:

  • Zielgruppenerreichung: Eltern und Fachpersonen können jederzeit und von überall Zugriff auf die Instrumente haben;
  • Zeitgemäße kostenneutrale Informationsplattform für User;
  • Ausbaufähigkeit und Aktualisierungsoptionen sind schnell realisierbar;
  • Direkte Vermittlung über Links;
  • Handhabung kann einfach und sequenziell gesteuert werden;
  • Ausblendung von Fragen nach definierten Abbruchkriterien kann technisch realisiert werden;
  • Direkte Einbindung von audio-visuellen Beispielen zur Einschätzung der Symptomatik ist userfreundlich und erhöht die Validität in der Einschätzung;
  • Einschätzungsskalierung der Häufigkeit kann technisch intuitiver gestaltet werden;
  • Auswertung erfolgt technisch ohne Aufwand für die User;
  • Interaktionsmöglichkeit;
  • Anonyme Datengenerierungsoption für Weiterentwicklung der Instrumente.

Eltern und Novizen profitieren in den Onlinetools von der Möglichkeit, die einzuschätzenden Beobachtungsitems audio-visuell dargeboten zu bekommen. Das Verständnis für die sprachliche Reaktionsweise des Kindes wird gesteigert und dadurch eine ‚verlässlichere‘ Einschätzung unterstützt. Wenn die Eltern sich z.B. unsicher sind, was unter einer ‚spannungsvollen Teilwortwiederholung‘ zu verstehen ist, können sie sich über ein Beispiel vergewissern, was damit gemeint ist.

In der Produktionsphase zu den Filmclips wurden wir auf der Suche nach einem Kind mit schauspielerischen Fähigkeiten fündig. Zur besseren Nachvollziehbarkeit der Symptomatik wurden das Sprachmaterial der Aufnahmen auf drei Sätze reduziert. Durch die immer gleiche Satzstruktur resp. den immer gleichen semantischen Inhalt der Sätze sollte die Aufmerksamkeit der User klar auf die Symptomatik gelenkt werden.

Die Onlinetools

Beide Produkte, der RedeflussKompass online sowie der StotterKompass online können unter www.hfh.ch/stotternerkennen eingesehen und angewandt werden. Die direkte Onlineerfahrung mit den Tools ist am aussagekräftigsten und gibt einen vertieften Einblick in Konzeption, Aufbau und Handhabung der Instrumente.

Fazit

Mit dem 2008 erschienenen RedeflussKompass 1.0 (Braun et al.) wurde der Startschuss für eine intensive Auseinandersetzung im Themenkreis Früherkennung des Stotterns gegeben. Die hier vorgestellten Online-Tools als Produkte dieser Auseinandersetzung sind empirisch abgestützte Hilfen, die komplementär einsetzbar sind und die Vorteile einer Digitalisierung in sich bergen. Eltern und Fachpersonen erhalten somit leicht zugängliche, wichtige Informationen über den individuellen Stand des Redeflusses des Kindes. Eine eventuelle Notwendigkeit von weiteren Maßnahmen wird aufgezeigt. Der RedeflussKompass online und der StotterKompass online sind innovative Tools, die die Chancen einer Früherkennung von Stottern und differenzierteren Betrachtung des Phänomens Stotterns deutlich erhöhen. Gerade für Kolleginnen, die sich neu in den Thermenkreis Stottern einarbeiten, bieten die Tools eine gute Orientierung für die Ersterfassung und Erstberatung.

Literatur

  • Bilda, K., Mühlhaus, J. & Ritterfeld, U. (2017). Neue Technologien in der Sprachtherapie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag
  • Braun, W., Baumann, U. & Boltshauser, M. (2011). Redeflusskompass 2.0. Entscheidungshilfe für Fachpersonen bezüglich Beratung und Ablärungbedarfs bei Sprechunflüssigkeiten für Kinder im Alter von 2 bis 6 Jahren. Zürich: Hochschule für Heilpädagogik.
  • Guitar, B. (2014). Stuttering: an integrated approach to it`s nature and treatment. 4th edition. Baltimore: Lippincott Williams & Wilkins.
  • Kohler, J. (2015). Empirische Überprüfung des Redeflusskompasses. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag.
  • Kohler, J. (2017). Evidenz bei der Identifikation des beginnenden Stotterns. Praxis Sprache 3, 147-154.
  • Kohler J. & Braun, W. (2019). Einsatz von RedeflussKompass 3.0 zur Früherkennung und StotterKompass zur Ersterfassung / Erstberatung. Forschung Sprache. 3, 3-24.
  • Kohler J. & Braun, W. (2020). Evaluation von RedeflussKompass und StotterKompass – Forschung aus der und für die Praxis. Forum Logopädie 34, (1), 6-13.
  • Natke, U. (2005). Stottern – Erkenntnisse, Theorien, Behandlungsmethoden. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Neumann, K., Euler, H.A. & Schneider P. (2014): Identifikation von Stottern im Vorschulalter. Köln: Demosthenes-Verlag der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V.
  • Ochsenkühn, C. & Thiel, M. (2005). Stottern bei Kindern und Jugendlichen. Heidelberg: Springer Verlag.
  • Sandrieser, P. (2004). Eine zeitliche Analyse der Unflüssigkeiten im Sprechen von stotternden und nichtstotternden Kindern. Universitätsbibliothek Aachen: Dissertation
  • Sandrieser, P. & Schneider, P. (2015). Stottern im Kindesalter (4. Auflage). Stuttgart: Thieme Verlag
  • Starkweather, C. W. (1987). Fluency and stuttering. Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall. Starkweather, C.W. & Gottwald, S.R. (1990). The demands and capacities model: Clinical Applications. In: Journal of Fluency Disorders 15, 143-157.
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