Informatikunterricht inklusiv! Teil 2

Wie kann die Umsetzung gelingen?

Hier geht es zum Teil 1: Warum sollen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf am Informatikunterricht teilhaben?

Inklusive Informatikdidaktik

Aufgabe der Sonderpädagogik ist es, die allgemeine Didaktik der Informatik, darauf zu prüfen, ob bestehende didaktische Konzepte bereits anschlussfähig für besondere Lernvoraussetzungen sind und wo methodische und inhaltliche Anpassungen und Erweiterungen gemacht werden müssen. Es gibt also keine spezifische Informatikdidaktik, die nur für Menschen mit Beeinträchtigungen gilt. Es geht vielmehr um die Überlegung, welche Erweiterungen im Regelunterricht notwendig sind, damit Lernende mit Behinderungen gleichermassen wie alle anderen vom Unterricht profitieren und effektiv gefördert werden können. Didaktik der Informatik muss sich dahingehend verändern, dass sie bezüglich besonderer Bedürfnisse von Lernenden mit Beeinträchtigungen anschlussfähig wird (Capovilla, 2019). Das Ziel ist es, die informatische Bildung für die Inklusion zu öffnen, ohne dass hierdurch Nachteile für Unterrichtsteilnehmende ohne Behinderung entstehen. Es ist im Gegenteil anzunehmen, dass nicht nur Lernende mit Behinderungen von einer systematischen Binnendifferenzierung profitieren können, sondern auch Lernende ohne festgestellten Förderbedarf.

Günstige Bedingungen für inklusives Lernen

Im Bereich informatische Bildung zeigen sich einige Bedingungen, welche die Inklusion von Schülerinnen und mit erhöhtem sonderpädagogischem Förderbedarf begünstigen können.

  • Die Fachdidaktik der Informatik stellt eine junge Disziplin bzw. Wissenschaft dar. Sowohl die Teilbereiche des Faches, sowie der Inhalte sind noch nicht abschliessend festgelegt, sondern Änderungen und Erweiterungen unterworfen. Auch die didaktischen Konzepte sind noch «formbarer» als in traditionellen Schulfächern.
  • Eine weitere Besonderheit, ergibt sich für den schulischen Informatikunterricht in Bezug auf die grosse Heterogenität der Schülerinnen und Schüler bezüglich der Vorkenntnisse, Interessen und Leistungen. Die Heterogenität bezüglich Informatik liegt heute deutlich höher als in traditionellen Fächern. Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem sonderpädagogischem Förderbedarf fallen deshalb weniger auf, eine Differenzierung der Angebote drängt sich nicht nur aufgrund der Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem sonderpädagogischem Förderbedarf auf, sondern auch aufgrund der grossen Breite an Vorkenntnissen.
  • Als dritter Punkt ist anzumerken, dass in den letzten Jahren ist die Technik generell universeller geworden ist, sodass nun auch handelsübliche Endgeräte Funktionen anbieten, welche früher spezifische assistive Technologien übernehmen mussten. Diese Entwicklung wird sich voraussichtlich noch fortsetzen, sodass in Zukunft die Zugänglichkeit noch breiter wird. Assistive Technologien werden noch punktuell notwendig sein. So verwenden z.B. Menschen mit Sehschädigung grundsätzlich handelsübliche Hard- und Softwareprodukte, die lediglich durch assistive Technologien ergänzt werden (Bsp. Screen Reader). Damit treten ökonomische Aspekte beim Thema Zugänglichkeit weiter in den Hintergrund und didaktische Aspekte treten vermehrt in den Vordergrund. Und damit tritt auch die didaktische Herausforderung von Heterogenität und Inklusion, weiter in den Blick der informatischen Bildung.
Ein Lehrer hilft Primarschülern im Klassenzimmer ihr STEM-Projekt aufzubauen.

(Inklusiv)didaktische Möglichkeiten

Im Lehrplan 21 werden didaktische Hinweise hervorgehoben, die in Bezug auf die sonderpädagogische Förderung relevant sind. Im Folgenden werden jene didaktischen Hinweise aus dem Lehrplan 21 und weitere Aspekte des Faches Informatik diskutiert, welche eine sonderpädagogische Anschlussfähigkeit bieten. Dies sind die Prinzipien:

  • Analyse von Abläufen/Modellbildung/Simulation
  • Problemorientierung
  • Greifbar machen von Phänomenen
  • Selbständiges Entdecken
  • Unterscheidung zwischen Ziel und Weg

Inhalte und ihre inklusive Vermittlung

Die Schülerinnen und Schüler lernen, welche Abläufe und grundlegenden Lösungsstrategien als Algorithmen beschrieben werden könne. Am Anfang stehen die Beschreibung und Analyse einfacher Abläufe – zunächst handelnd, mit greifbaren Materialien und einfacher Sprache. Schülerinnen und Schüler lernen so ebenfalls verschiedene Darstellungen von Information kennen und dass der abstrakte Begriff «Daten» als symbolische Darstellung von Information zu verstehen ist. Sie gewinnen so Einblick in die Prinzipien und Methoden der Verwaltung und Auswertung von Daten. Beim Programmieren werden Prozesse, Abläufe und Lösungsstrategien dann in eine formale Sprache übersetzt, die für eine automatisierte Verarbeitung der Daten vom Gerät genutzt werden kann. Diese Grundkonzepte der Informatik können dabei auch ohne Computereinsatz, ohne technisches Gerät und ohne Strom vermittelt werden. Dies führt uns zum zweiten didaktischen Punkt, nämlich, zur begreifbaren Informatik. Informatik gilt gemeinhin als abstraktes Thema. Eine inklusive Vermittlung in der Volksschule kann aber nur dann gelingen, wenn Informatik anschaulich und begreifbar, handlungsorientiert vermittelt wird. Bei der Wahl von Beispielen ist deshalb stets auf Lebensweltbezug zu achten, Informatikkonzepte wenn immer möglich auch spielerisch und handlungsbezogen zu vermitteln. Sensoren, Aktoren und Roboter verbinden die abstrakte Welt der Informatik mit eigenen Handlungserfahrungen und mit der wahrgenommenen Umwelt von Kindern und Jugendlichen. Nach Hubwieser (2007) geht es in der Schulinformatik um die drei Bereiche: A) Darstellung von Informationen, B) Verarbeitung und Transport von Repräsentationen, C) Interpretation von Repräsentationen. Insgesamt geht es in der Informatik inhaltlich um Abläufe, Datenverarbeitung, Modellbildung und Simulation.

Methodische Prinzipien

Hubwieser (2007) empfehlt für den Informatikunterricht die beiden methodischen Prinzipien Problemorientierung Konkret kann es im Informatikunterricht darum gehen, ein Problem zu beschreiben, die zur Lösung des Problems erforderlichen Details zu identifizieren, das Problem in kleine, logische Schritte zu zerlegen, anhand dieser Schritte einen Prozess (Algorithmus) zur Lösung des Problems zu erstellen und dann diesen Prozess zu beurteilen.

Abstraktes greifbar machen

Informatik gilt als abstraktes Thema, soll und kann aber greifbar gemacht werden. Für eine erfolgreiche Vermittlung in der Volksschule gilt es deshalb, Informatik anschaulich und „be-greifbar“ zu vermitteln. Neben dem Lebensweltbezug bei der Wahl der Beispiele ist deshalb darauf zu achten, Informatikkonzepte wenn immer möglich auch spielerisch und handlungsbezogen zu vermitteln. Sensoren, Aktoren und Roboter verbinden die abstrakte Welt der Informatik mit eigenen Handlungserfahrungen und mit der wahrgenommenen Umwelt von Kindern und Jugendlichen.

Selbständiges Entdecken

Selbstständiges Entdecken soll im Informatikunterricht gefördert werden. Im Informatikunterricht hat das selbstständige Entdecken einen ebenso grossen Stellenwert wie die Vermittlung von Wissen und Methoden. Viele Aufgabenstellungen können zuerst durch selbstständiges Experimentieren gelöst werden. Die dabei gesammelten Erfahrungen führen zum Entdecken allgemeiner Lösungsstrategien. Diese werden beim Programmieren für weitere Aufgabenstellungen auf korrekte Funktionalität getestet und bei Bedarf verbessert. Der Prozess von der Aufgabenstellung bis zum fertigen Produkt soll mit einem möglichst hohen Grad an Selbstständigkeit durchgeführt werden. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler auch, die Programmiersprache durch selbst entwickelte Funktionen und Prozeduren zu ergänzen mit dem Ziel, die Kommunikation mit dem Rechner zu vereinfachen und eigene kreative Vorstellungen umzusetzen.

Ziel und Weg in der Inklusion

Capovilla 2019 empfiehlt beim Thema «Informatik und Inklusion» zwischen Ziel und Weg zu unterscheiden. Ziel der Inklusion in dem Informatikunterricht sei die vollständige informationelle Partizipation, d.h. dass Mithilfe von Technologien und medialen Angeboten Barrieren im Informationszugang und in der Interaktion beiseitegeräumt bzw. zumindest minimiert werden, um auch so die behindertenspezifischen Eigenarten in den Hintergrund rücken zu können. Als Weg beschreibt Capovilla, dass Lernende – auch solche mit Beeinträchtigungen – daher möglichst früh über die Bedeutung von ICT für das Zusammenleben erfahren und Anwenderkompetenzen erlernen sollen. Früh können sie auch mit Konzepten in Berührung kommen, wenn diese ohne Strom, also «Informatik ohne Strom» thematisiert werden.

Definition «Informatische Bildung»: Der Begriff «informatische Bildung», welcher oft in der Literatur, jedoch nicht im LP21 vorkommt, schliesst alle drei Perspektiven, also Medienbildung, Informatik und Anwendungskompetenzen mit ein.

Definition «Informatik»: Informatik ist die Wissenschaft der strukturierten und automatischen Informationsverarbeitung durch ein digitales Gerät (Computer, iPad, etc.).

Definition «Computational Thinking» (informatische Denkkonzepte): Computational Thinking wird also als Sammelbegriff für eine ganze Reihe von unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im Kontext der Informatik von Bedeutung sind, verwendet und beinhaltet Tätigkeiten wie algorithmisches Denken, Abstraktion, Dekomposition, Generalisierung und Muster, Auswertung, Logik (Brennan & Resnick, 2012).

Informatikunterricht inklusiv!

Zwei Anwendungsbeispiele

1. Beispiel: Programmieren mit der Maus – Programmieren ohne Strom

Siehe auch:

Mit „Programmieren mit der Maus“ werden Schülerinnen und Schüler spielerisch an die Programmierung mit der Open-Source-Software „Scratch“ herangeführt.

Mit Lernspielen werden die Kinder an die Thematik herangeführt, in welchen sie grundlegende Programmierkonzepte wie Variablen, Schleifen und Verzweigungen kennen lernen. Die Kinder erstellen dabei kleine Animationen, Wimmelbilder und erste Spiele. Die Kinder haben die Möglichkeit jedes Spiel zu ihrem eigenen zu machen, indem sie Figuren, Hintergründe und Sounds individuell anpassen. Die selbst programmierten Spiele können abgespeichert und dann gemeinsam mit Freunden und Verwandten gespielt und wieder verändert werden.

Zielgruppe: Kinder ab der 2. bis zur 6. Klasse (7-12 Jahre, die Kinder sollten kurze Texte lesen können. Jüngere Kinder können die Anwendung mit Erwachsenen zusammen nutzen.)

Geräte: Tablets (ab iOS 11) und Desktop-Geräte, auf Smartphones ist die Anwendung derzeit leider nicht nutzbar.

2. Beispiel: Inklusives Programmieren für Kinder von 10 bis 14 Jahren mit dem Starterpaket „Turtle Coding Box“ (Aktion Mensch)

Arbeitsmaterialien von Code your life

Handbuch:

Siehe auch den Beitrag von Baselland zu Code your life.

Code your Life bedeutet Programmieren mit Jungen und Mädchen im Alter von 10-14 Jahren, die noch keine Vorerfahrung mit Programmieren haben. Der Ansatz ist spielerisch, niedrigschwellig aber immer auch mit einer Portion Herausforderung. Mithilfe von Turtle-Grafiken und der Programmiersprache Logo werden die Kinder Schritt-für Schritt an das Programmieren herangeführt. Von der ersten Annäherung an einen Programmierwortschatz über einfache Programmierprinzipien bis hin zu komplexen Aufgabenstellungen wird so eine stimmige Einführung ins Programmieren ermöglicht. Für die Lehrperson bestehen vollständige Unterrichtseinheiten, die aufeienander aufbauen. Die Einheiten bestehen aus einem detailliert beschriebenen Unterrichtsablauf, weiterführenden Tipps oder einem Verweis auf didaktische Prinzipien. Die Lehrperson braucht keine Vorkenntnisse im Programmieren!
(Quelle: http://www.code-your-life.org/)

Weitere Links:

Die folgende Liste enthält Materialien, welche nicht spezifisch für einen Kontext erstellt worden sind, bei dem Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem sonderpädagogischem Förderbedarf inkludiert werden, aber dennoch für diesen Zweck hilfreich sein können.

Literatur

  • Brennan, K., & Resnick, M. (2012). New frameworks for studying and assessing the development of computational thinking. In Proceedings of the 2012 annual meeting of the American educational research association, Vancouver, Canada (Vol. 1, p. 25).
  • Brinda, T., Diethelm I., Gemulla R., Romeike R., Schöning J., Schulte C. et al. 2016. Dagstuhl-Erklärung: Bildung in der digitalen vernetzten Welt. Herausgegeben von Gesellschaft für Informatik e.V. https://dagstuhl.gi.de/fileadmin/GI/Hauptseite/Aktuelles/Projekte/Dagstuhl/Dagstuhl-Erklaerung_2016-03-23.pdf (Zugriff: 1.8.2022)
  • Capovilla, D. (2019). Informatische Bildung und inklusive Pädagogik. In: Pasternak A. Informatik für alle. S. 35-46.
  • Hubwieser, P. (2007). Didaktik der Informatik: Grundlagen, Konzepte, Beispiele. Springer-Verlag.
  • Lewis, A., & Neill, S. (2001). Portable computers for teachers and support services working with pupils with special educational needs: an evaluation of the 1999 United Kingdom Department for Education and Employment scheme. British Journal of Educational Technology, 32(3), 301-315.
  • Nussbaumer, D., & Hövel, D. C. (2021). Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) in der schulischen Heilpädagogik (IN_USE): Ein systematischer Überblick. Zeitschrift für Heilpädagogik, 72, 628–639.
  • Ratheeswari (2018). Information Communication Technology in Education. Journal of Applied and Advanced Research 3(S1):45.
Vorheriger Beitrag Nächster Beitrag